Zur Hohen Muttergottes - Notre Dame du Haut -
von Albert Spycher-Gautschi

Zur Hohen Muttergottes - Notre Dame du Haut
Impressionen aus dem Elsässer Jura

von Albert Spycher-Gautschi

Bild 1 - Akeleiwiesen, im Hintergrund das Bauerndorf Winkel Folgen Sie uns, liebe Leserin und lieber Leser, an den südlichsten Zipfel des Elsasses am Übergang vom sanft hügeligen Sundgau zur Faltenlandschaft des Elsässer und Schweizer Juras. Wir verweilen auf einem im Volksmund "Muettergottes-Hööchi" (Muttergotteshöhe) genannten Wasserscheide, unweit eines einst von den Burgen Liebenstein, Pfirt (Ferrette), Mörsberg (Morimont), Blochmont und Löwenburg bewachten historischen Verkehrsnetzes. Heute verkehren mit Ausnahme von Schulbussen keine öffentlichen Verkehrsmittel in der näheren Umgebung. Östlich von unserem Standort entspringt im Bauerndorf Winkel (Bild 1) die Quelle der Ill - ein Fluss, der sich durchs Elsassland schlängelt, in Strassburg Touristenschiffe transportiert und bei Kehl in den Rhein mündet. Bild 2  -  Die Warth-Kapelle von Winkel mit einer Lourdes-Grotte. Die unweit der Illquelle stehende Warth-Kapelle erinnert an den Ritter Rudolf von Warth, der als Komplize bei der Ermordung des Habsburger Grafen Albrecht I. im Jahr 1308 aufs Rad geflochten wurde, und dessen Sohn um des Vaters Seelenfrieden willen dem nahen Zisterzienserkloster Lützel (Lucelle) 3600 Gulden stiftete (Bild 2). Der Sage nach versuchte die Witwe des Ritters ein Grabmal aus Felsblöcken zu errichten, wurde aber von der Grafentochter daran gehindert. In manchen Nächten sollen die Weh- und Racheschreie der beiden Frauen gehört worden sein, bis deren Schatten bei der Illquelle verschwanden.

Bild 3  -  Landschaftsidylle im Quellgebiet des Flusses Larg. Eine halbe Wegstunde westlich liegt die kleine Gemeinde Oberlarg, in deren Hoheitsgebiet das Flüsschen Larg (Largue) entspringt (Bild 3), am internationalen Golfplatz "La Largue" vorbei und durch schmucke Riegelhaus-Dörfer Richtung Illfurth fliesst, wo sich die beiden Gewässer vereinigen. Oberlarg wurde auch durch die sagenumwobenen und seit dem 19. Jahrhundert von Archaeologen erforschten Wohnhöhlen des "Mànnlàfelsen" (Männchenfelsen) bekannt, die mundartlich "Àrdwyblefelsen" (Erdweibchenfelsen) genannt werden (Bild 4). Einst hausten dort ausser Steinzeitmenschen "Àrdwyble" und "Àrdmànnlà", die in stillen Nächten heimlich Gutes taten, Bild 4  -  Keine Sinnestäuschung: Die Mànnlefelsenhöhlen spiegeln sich im Quellwasser der Larg. und denen nicht nachgespürt werden durfte. So erzählt man sich im Grafenstädtchen Pfirt (Ferrette) drüben, dass sich Burschen nachts auf die Lauer legten und merkwürdige zwergenhafte Wesen mit bodenlangen Gewändern zu Gesicht bekamen. Bei Tageslicht erwiesen sich die Spuren als Klauenabdrücke von Ziegen. Bocksfüsse verbargen sich also unter den langen Röcken, wusste man jetzt. Dafür verschwanden jene Gestalten und kamen nie wieder. Um den Gegenwartsbezug wiederherzustellen sei erwähnt, dass der Ill wie auch der Larg entlang in unzähligen Weihern Karpfen gezüchtet werden. Gemeinsam bilden die beiden Täler die sundgauische "Route de la carpe frite" - die gastronomisch-kulinarische Meile des gebackenen Karpfens.

Bild 5  -  Die Kapelle “Zur Hohen Mutter Gottes“ zwischen Winkel und Oberlarg. Inzwischen brennt die Augustsonne auf die Muttergotteshöhe herunter, und wir schützen uns im Schatten einer von fünf gewaltigen Lindenbäumen umstandenen baulich anspruchslosen Kapelle aus dem frühen 19. Jahrhundert (Bild 5).

Joseph Lévy schrieb 1929, dass dort schon vor der Revolution ein Bethäuschen gestanden habe. Als Hauptschmuck dominiert eine lebensgrosse steinerne Maria auf der Erdkugel (Bild 6). Diese stand einstmals auf einem Brunnenstock des bereits erwähnten Klosters Lützel und wurde bei dessen Auflösung während der Revolution an Glashütten und einsamen Bauerngehöften vorbei nach Oberlarg verschleppt. Bild 6  -  Marienstatue aus der einstmaligen Zisterzienserabtei Lützel (Lucelle) Als die in den Farben der unbefleckten Mutter Jesu in Lourdes bemalte Figur auf einem Ochsengespann ausser Landes gebracht werden sollte, liessen sich die Zugtiere auf der Anhöhe über dem Dorf nicht mehr fortbewegen, so sagt man. Die Leute von Oberlarg verstanden die Verweigerung als "Zeichen von oben" und beschlossen, die Statue an Ort zu belassen und zu Ehren der "Hohen Muttergottes" eine Kapelle zu errichten. Heute flackern in deren Schirm und Schutz meistens Kerzenlichter, ob gerade ein Sturm durch die Baumkronen heult oder sich ein Gewitter über der Gegend entlädt. Manche Verweilende suchen Trost und Hoffnung bei der Himmelskönigin, andere finden an diesem Kraftort Ruhe und Besinnung in den Gesetzen der Natur oder beides zusammen.

Mitte August, an Mariae Himmelfahrt, erlebt die geweihte Stätte ihren grossen Tag. Bild 7  -  Die Messe zu Ehren der “Hohen Muttergottes“ an Mariae-Himmelfahrt ist mehr als kirchlich-religiöse Folklore. Bei schönem Wetter karren Traktoren Sitzbänke herbei, ein Altar wird aufgebaut und festlich geschmückt. Am späteren Vormittag sind Wiesen und Wegränder mit Automobilen besetzt, denen an die hundert Gläubige jeglichen Alters entsteigen, um inmitten hochstehender Maisfelder einer feierlichen Messe beizuwohnen. Beim lebhaften Begrüssen und Wiederbegegnen halten sich Französisch und mundartliches Elsässerdeutsch die Waage. Eine weisshaarige Frau, die im Alltag Brot und Patisserien verkauft, schafft mit der Stimmgabel am Ohr den Eingangsgesang intonierend den Übergang zum kirchlichen Akt. Bild 8  -  Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut... Die Zeiten sind vorbei, als einheimische Gemeindepfarrer bis ins hohe Alter Generationen von "Pfarrkindern" betreuten. Der fremdländische Akzent des jungen Geistlichen tut indes der Andacht keinen Abbruch. Als Ministranten walten bestandene Männer mit bedächtigen Handreichungen (Bild 7). Wenn sich aller Augen beim "Nehmet und Esset, Nehmet und Trinket" zu Hostie und Kelch emporheben (Bild 8), könnten die Gesichter der ältesten Frauen und Männer Erinnerungen an Flüchtlingselend und Schmugglergeschichten aus dem Ersten Weltkrieg erzählen. Bild 9  -  Spätwinterliche Föhnstimmung über der Muttergotteshöhe. Um wenige Jahrzehnte Jüngere hatten im Zweiten Weltkrieg Evakuationen, Deportationen und die "libération" am 20. November 1944 miterlebt. Von der heutigen Generation begründeten manche auswärts eine Existenz und kehrten an diesem Tag ins Heimatdorf zurück, um mit den Angehörigen ein Wiedersehen zu feiern. Von der Bauernsame haben nur wenige Grossbetriebe überlebt. Die geweihte Stätte entvölkert sich jedoch unerwartet rasch, und die "Hohe Muttergottes" wird ein Jahr lang nie mehr so zahlreich besucht werden, dennnoch aber nie lange allein bleiben in dieser geschichtsträchtigen und legendenumwobenen Landschaft (Bild 9).

Der Verfasser dankt Jean-Philippe Meyer vom Service de l'inventaire du Patrimoine (Région Alsace) in Strassburg für wertvolle Auskünfte.

    Bildlegenden
  1. Akeleiwiesen, im Hintergrund das Bauerndorf Winkel.
  2. Die Warth-Kapelle von Winkel mit einer Lourdes-Grotte.
  3. Landschaftsidylle im Quellgebiet des Flusses Larg.
  4. Keine Sinnestäuschung: Die Mànnlefelsenhöhlen spiegeln sich im Quellwasser der Larg.
  5. Die Kapelle "Zur Hohen Mutter Gottes" zwischen Winkel und Oberlarg.
  6. Marienstatue aus der einstmaligen Zisterzienserabtei Lützel (Lucelle)
  7. Die Messe zu Ehren der "Hohen Muttergottes" an Mariae-Himmelfahrt ist mehr als kirchlich-religiöse Folklore.
  8. Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut...
  9. Spätwinterliche Föhnstimmung über der Muttergotteshöhe.
    Verwendete Literatur (Auswahl):
  • Claerr-Stamm, Gabrielle et al.: Lucelle, Riedisheim 1993.
  • Heyer, Vincent und Burtschy, Bernard: 1939-1945 - Deuxième Guerre Mondiale dans le Sundgau, Altkirch 2003.
  • Kraus, Franz Xaver: Kunst und Altertum im Oberelsass, Bd. 2, Strassburg 1884.
  • Lévy, Joseph: Die Wallfahrten der Mutter Gottes im Elsass, 2. Aufl., Colmar 1929.
  • Munck André et al: Le Guide du Sundgau, Strassburg 1989.
  • Stintzi, Paul: Die Sagen des Elsasses, 1. Teil, Colmar 1929.
  • Derselbe: Aus der Geschichte von Oberlarg, in: Annaire de la Société d'histoire du Sundgau (Sundgaujahrbuch) 1935.
  • Derselbe und Wacker, Eugen: Der Sundgau - ein Führer durch Landschaft, Geschichte und Kunst, Colmar 1943.
  • Vischer, Adolf L.: Die Warthkapelle bei Winkel, in: Annuaire de la Société d'histoire du Sundgau 1935.

Mit freundlicher Unterstützung von Albert Spycher-Gautschi
Titel: Zur Hohen Muttergottes - Notre Dame du Haut
Autor: Albert Spycher-Gautschi
Copyright: © by Albert Spycher-Gautschi
Bilder: Albert Spycher-Gautschi
gepostet von Albert Spycher-Gautschi am:
Date: 31.08.2012 19:42


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