Am Brunnen von Boschetto, Valle Maggia
von Albert Spycher-Gautschi

Am Brunnen von Boschetto, Valle Maggia (Maggiatal) -

Am Brunnen von Boschetto, Valle Maggia
von Albert Spycher-Gautschi

Bild 1, - Gewitterstimmung über der Maggia bei Moghegno. Wir begeben uns auf eine Zeitreise ins wohl meistbesuchte Bergtal des Nordtessins, ins Maggiatal, das in alten Urkunden als Meiental, Maynthal, Vallis Madie oder Vallis maior (das grössere Tal) erscheint und sich im oberen Teil Val Lavizzara nennt. Je tiefer man in diese von allgegenwärtigem Kultur- und Wirtschaftsstrukturwandel geprägte Gegend mit den Seitentälern Valle di Campo, Bosco Gurin, Val Bavona und Val di Peccia eindringt, je häufiger stösst man auf Spuren einer wechselvollen Geschichte.

Bild 2, - Votivtafel des Malers Giovan Antonio Vanini (1810-1886). Die Badeplätze am Talhauptfluss Maggia sind Anziehungspunkte für Heerscharen von Touristen, wenn die Maggia-Kraftwerke das Flussbett mit Restwassermengen speisen. Unübersehbar sind dann die ausgedehnten Geschiebebänke (il greto) im mittleren Talabschnitt - durch Waldübernutzung und Holzflösserei in früherer Zeit verursachte Erosionen. Kehrt jedoch das Wetter, werden die Gewässer zu reissenden Strömen und überzogen das Land zu allen Zeiten mit Tod und Verwüstung (Bild 1). So zeugt an manchen sakralen und weltlichen Gebäuden die Darstellung menschlicher Skelette vom Tod als Begleiter im gefahrvollen Alltag der Bevölkerung. Bild 3, - Museo Valmaggese im Talhauptort Cevio, einstiger Sitz der Cancellieri. Eine Vorstellung davon vermittelt die Sammlung von Votivbildern des Malers Giovan Antonio Vanoni (1810-1886) in der historischen Kirche Santa Madonna di Campagna bei der Ortschaft Maggia. Diese mit den Initialen G.R. für Grazia Ricevuta (Dank für erhaltene Gnade) versehenen Gemälde danken der Himmelskönigin Maria für heil überstandene Unglücksfälle, wie die Errettung eines Auswanderers in Seenot, Abstürze aus steilen Bergwiesen oder die Bewahrung vor Schlangenbiss und andere Vorkommnisse mehr (Bild 2). Darüber hinaus geben Vanonis Votivbilder wie auch Portraits Aufschluss über Alltagsgerät und einstmaliger Kleidertracht, wie sie das Museo Valmaggese im Talhauptort Cevio (Bild 3) als Exponate zeigt.

Bild 4, - Kapelle Santa Madonna di Ponte an der Brücke über den Fluss Rovana. Von 1513 bis 1798 unterstand das Maggiatal als ennetbirgische Landvogtey Maynthal der Oberhohheit der 12 eidgenössischen Orte, wobei das Val Lavizzara eine eigene Herrschaft bildete. Die im Turnus von bloss zwei Jahren amtierenden Vögte waren bei der Anwendung der Talstatuten weitgehend auf Dolmetscher und die lokalen Behörden (Cancielleri) angewiesen, die in den Gebäuden des heutigen Museums sassen. Die Landvögte residierten im palastähnlichen Pretorio, an dessen Hauptfassade die Wappen einer Anzahl Vögte zu sehen sind. Am einstmaligen Gerichtsgebäude von Sornico in der Herrschaft Lavizzara hängt heute noch das Halseisen. Das Erlöschen des Landvogteiwesens im Zuge der Revolution hinteliess eine unterentwickelte, verarmte Talschaft und löste eine bis ins 20. Jahrhundert dauernde Emigrationswelle aus.

Bild 5, - Steinbruch bei Boschetto. 1969 liess sich der Verfasser dieses Beitrags beim Vorbereiten der Radiosendung "Valle Maggia - zu Deutsch Maynthal" (Radio DRS 1, 11.6.1971, 75 Min.) vom Lehrer und Heimatforscher Giuseppe Martini (1922-2007) von Cevio aus talaus-talein geleiten. Zu Fuss ging es von der schmucken Kapelle Santa Madonna di Ponte (Bild 4) über den wild schäumenden Rovanafluss und an einem gewaltigen Gneis-Steinbruch (Bild 5) vorbei zum Ortsteil Boschetto inmitten uralter Edelkastanienselven und zu Füssen eines imposanten Wasserfalls. Frühe Reisende berichteten, dass man vom gegenüberliegenden Visletto her mangels einer Brücke die Maggia auf einem Nachen oder bei Trockenheit zu Fuss Richtung Boschetto überqueren konnte (Bild 6). Das Betreten dieser Siedlung glich dem Eintauchen in eine Welt aus Verlassenheit, Schatten, Erde, Stein und morschem Holz. Bild 6, - Boschetto, vom linksufrigen Visletto aus gesehen. Hier schien die Zeit buchstäblich stehen geblieben zu sein. Von der Kirchturmuhr ohne Zifferblatt schweifte der Blick zu einer Wegkapelle, an der ein lebensgross gemaltes Totengerippe mit der Umschrift "Io tutti atterro e premo nella polvere del sepolcro..." (Ich strecke Euch alle nieder und stosse euch in den Staub des Grabes) an die Endlichkeit menschlichen Seins (Bild 7). Dieweil der Reporter die Beklemmung am Dorfbrunnen nebenan kühlte, erzählte der Reiseführer, dass laut mündlicher Überlieferung jeglicher, der sich an diesem Brunnen erlabte, nach Boschetto zurückkehren müsse (Bild 8). Bild 7, - Memento mori am Dorfeingang von Boschetto. Zu beiden Seiten der engen, mit Steinplatten besetzten Gassen gähnten Fensterhöhlen aus eingestürzten Gemäuern und unter zusammengebrochenen Steindächern. In einem betretbaren Wohnhaus sah es aus, als seien die Bewohner eben erst ausgewandert - als Steinhauer nach Kalifornien oder Australien vielleicht. Die erste Etappe mochte mit der 1907 eröffneten und 1965 eingestellten Eisenbahn Locarno-Bignasco zurückgelegt worden sein. Die Augen gewöhnten sich an das Düster eines Küchenraums: An der Kaminkette ein schwarz verrusster Wassereimer aus Lavezstein, auf dem Tisch verstaubtes Steingutgeschirr. Eisenbettgestelle versperrten den Zugang in eine noch dunklere Kammer, auf deren Boden Aufsatzhefte mit Bemerkungen, wie da rifare (nochmal schreiben), umherlagen. Zum Vorschein kamen auch mit Zensurstempeln versehene Ansichtskarten aus der Zeit des Weltkriegs 1914-1918. Bild 8, - Wer aus diesem Brunnen trinkt, ... Auf einigen hatte man die Briefmarke abgekratzt und darunter in Kleinstschrift verfasste Mitteilungen freigelegt. Unterhalb der Kirche führte eine Treppe aus zentnerschweren Granitstufen zu einem niedrigen Gelass. Die Sonne warf einen Lichtstrahl durch das vergitterte Fensterchen auf den mit verrottetem Stroh bedeckten Boden und auf eine umgestürzte deckellose Truhe. Um diesen cassone herum lagen viele gefaltete und noch mehr zerknautschte Briefschaften herum. Deren Zustand zeigte, dass das Kämmerchen vor Zeiten als Abort gedient hatte. Was an entzifferbaren Dokumenten gesichert werden konnte, erwies sich als Überrest eines Orts- oder Privatarchivs.

Bild 9, - Zum Vergleich: Ritorto - Winter im Val Bavona. Wie der Schriftsteller Plinio Martini schrieb, baute man in früherer Zeit senza metro e senza disegno - ohne Metermass und Bauzeichnung. Dies bestätigt der vorgefundene Bauvertrag vom Jahr 1686 für ein Wohnhaus, dessen Mauern 6 braza (Ellen), also ungefähr 3 Meter 60 Zentimeter unter Dach hochgezogen und und mit Terrassen auf der Morgen-, Mittag- und Abendseite versehen werden sollte. Diese Bautradition erklärt die vollendete architektonische Harmonie, wie sie etwa das Dörfchen Ritorto im Bavonatal ausstrahlt (Bild 9). Boschetto hatte offenbar auch seinen eigenen Schuhmacher: Das Conto delle Scarpe 1845 des Filippo Palla, calzolajo, verzeichnet 20 Reparaturarbeiten für Giuliana, Giacomo Antonio und Tochter, das Ehepaar Filippo sowie für Pietros Familie, denen lediglich zwei Neuanfertigungen gegenüberstanden. Bild 10, - Landvöglichter Gerichtsentscheid von 1765. Nach Abzug der Selbstkosten im Betrag von 12 Franken betrugen die Nettoeinnahmen 73 Franken. Ein kurioser landvögtlicher Rechtsentscheid vom Jahr 1765 möge diesen Aktenquerschnitt beschliessen (Bild 10, sinngemässe Transkription):

"Wir, Jakob Anton Gamma, Grossrat des löblichen Kantons Uri, zur Zeit regierender Kommissar (Landvogt) in den Tälern Valle Maggia und Lavizzara, halte fest und gebe mit Gegenwärtigem kund, dass die Ehefrau des Giacomo Martocho in Cevio keine kriminelle Handlung mit den zerrissenen Bettlaken des Giovan Carlo Balzarino, daselbst, begangen hat, weil es purer Scherz oder Schabernack gewesen war. Sie wird hiermit freigesprochen, und der Vorfall darf ihren Ruf niemals schädigen (...).
Cevio, den 19. September 1765                         Jakob Anton Gamma, Commissario".
Die zitierten Dokumente sind im Besitz des Museo Valmaggese in Cevio.

Bild 11, - Boschetto: Dorfidylle. In den folgenden zwei Jahrzehnten trieben Antiquitätenjäger und Vandalen ihr Unwesen, und überall hing das Schild "DA VENDERE" - Haus zu verkaufen. Eine Anwohnerin ärgerte sich über zudringliche Touristen, die auf Privatgrund Kastanien sammelten, dieweil sie in einem Supermarkt in Locarno arbeitete, wo das Kilogramm 8 Franken kostete. Nach und nach wurden Rustici renoviert, Gärtchen angelegt und rote Geranien vor die Fenster gestellt. Während eine Familienpension und Ferienwohnungen einen sanften Tourismus in Boschetto einleiteten, wurden mit dem "Projekt Boschetto" dank Unterstützung der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz Landwirtschaftsflächen wiedergewonnen, historische Wege mit beidseitigen Trockenmauern wiederhergestellt und die Pflästerung im Dorf saniert (Bild 11). Auch ein schlichter neuer Brunnen wartet auf Sie, liebe Leserin, lieber Leser, auf dass Sie vom kristallklaren Wasser trinken und nach nach Boschetto zurückkehren werden.

    Bildlegenden:
  1. Gewitterstimmung über der Maggia bei Moghegno.
  2. Votivtafel des Malers Giovan Antonio Vanini (1810-1886).
  3. Museo Valmaggese im Talhauptort Cevio, einstiger Sitz der Cancellieri.
  4. Kapelle Santa Madonna di Ponte an der Brücke über den Fluss Rovana.
  5. Steinbruch bei Boschetto.
  6. Boschetto, vom linksufrigen Visletto aus gesehen.
  7. Memento mori am Dorfeingang von Boschetto.
  8. Wer aus diesem Brunnen trinkt, ...
  9. Zum Vergleich: Ritorto - Winter im Val Bavona.
  10. Landvöglichter Gerichtsentscheid von 1765.
  11. Boschetto: Dorfidylle.
    Verwendete Literatur (Auswahl):
  • Bianconi, Piero: Giovanni Antonio Vanoni pittore, Bellinzona 1933.
  • Billeter, Heinrich: Die Landvogtei Mainthal (Valle Maggia und Lavizzara) - die eidgenössische Herrschaft von 1513-1798, Dissertation Zürich 1977.
  • Chiesa Virgilio: Boschetto, Locarno 1968 (Kommentar zum Schulwandbild Nr. 114, "Tessiner Dorf" des Schweizerischen Schulwandbilderwerks nach einem Gemälde von Ugo Zaccheo).
  • Martini, Plinio: Nessuno ha pregato per noi:1957-1977, Locarno 1999.
  • Meyer, Johann Heinrich (1755-1829), Mahlerische Reise in die italienische Schweiz, in: Vetterli, W.A.: Frühe Freunde des Tessins, Zürich 1944.
  • Schweyckardt, Markus: Elektrische Bahn Locarno-Ponte Brolla-Bignasco, Leissigen 1997.
  • Signorelli, Martino: Storia di Valmaggia, Locarno 1972.
  • Stiftung Landschaftsschutz Schweiz, Projekt Boschetto, Schlussbericht vom 28.2.2009.

Mit freundlicher Unterstützung von Albert Spycher-Gautschi
Titel: Am Brunnen von Boschetto, Valle Maggia
Autor: Albert Spycher-Gautschi
Copyright: © by Albert Spycher-Gautschi
Bilder: Albert Spycher-Gautschi
gepostet von Albert Spycher-Gautschi am:
Date: 05.07.2012 18:54


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