Die Legende von der Madonna della Fontana (Ascona)
Text und Bildauswahl: Albert Spycher-Gautschi, Basel
Wir sind im Touristenzentrum Ascona am oberen Ende des Lago Maggiore - einem einstmaligen Fischerdorf, das seit Ende des 19. Jahrhunderts "all das heterogene Volk anzog", wie es der Schriftsteller Jakob Flach formulierte, "Intellektuelle und Künstler, Asketen mit und ohne Bärte, Mystiker und Scharlatene, Rebellen und Pazifisten mit und ohne wallende Mähne...".
Hinter dem Villenhügel des Monte Verità
(Bild 1, wo einst Naturisten den Vegetarismus und die freie Liebe predigten, steht im Schatten alter Baumbestände die zwischen 1617 und 1677 erbaute Wallfahrtskirche zur "Madonna della Fontana di Perlengora" mit einem angebauten sagenumwobenen Sanktuarium direkt an der Grenze zur Nachbargemeinde Losone.
Die merkwürdige Geschichte dieser Gnadenstätte führt ins Jahr 1428 zurück, als die Gegend von einer Dürre betroffen war.
Ein taubstummes Mädchen weidete die Schafe einiger Bauern und sollte ihnen erst noch die Wolle spinnen.
Stattdessen musste es zusehen, wie ein Tier nach dem andern vor den ausgetrockneten Rinnsalen verendete. In seiner Verzweiflung und aus Angst vor den Bauersleuten entfuhr dem stummen Kinde ein Notschrei - "Povera me - ich Ärmste! Heilige Mutter Gottes hilf!" Wie durch ein Wunder erschien die Angerufene, und an der Stelle, wo bereits eine Votivkapelle stand, sprudelte plötzlich Quellwasser aus dem steinigen Erdreich. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von diesem Geschehnis, und dass das Kind die Sprache wieder gefunden hatte. Der Ort wurde ebenso bekannt wie die nahe Wallfahrtskirche "Madonna del Sasso" in Locarno. Selbst Gläubige vom andern Ufer des Lago Maggiore fuhren auf ihren Barken nach Ascona hinüber und pilgerten zur "Madonna della Fontana" hinauf, wo sie sich vom Wasser, das sie aus der Quellfassung schöpften, Heilung von allerlei Gebrechen erhofften. Der stetig wachsende Zustrom von Pilgern, aber auch verheerende Pestzeiten, führten schliesslich zum Kirchenbau.
Der heutige Besucher findet Schritte von der Gnadenstätte entfernt einen "Grotto" mit verlockenden Tessiner Spezialitäten, die Kirche wurde im Laufe der Zeit zu einer vielbesuchten Jugendherberge ausgebaut. Gottesdienste finden nur mehr anlässlich der Marienfeste sowie an den Rosenkranz-Sonntagnachmittagen im Mai und Oktober statt. Jedoch in der Tag und Nacht von einem Meer von Kerzen erhellten Kapelle ist man selten allein. Frühmorgens fahren Herren im Geschäftsanzug vor, und Touristen versuchen, das im Düstern hinter Gittern und Glas verborgene Gnadenbild "Maria mit Kind" zu fotografieren. (Bild 3) Jahraus, jahrein sorgen Frauen aus der Pfarrgemeinde für Blumenschmuck wie auch für Ordnung und Sauberkeit in der Kapelle. Was tut's, dass Ende des 20. Jahrhunderts bei der Untertunnelung Asconas der Wasserzufluss zur Quelle abgeschnitten wurde und mit Leitungswasser Vorlieb nehmen muss, wer zu einer der angeketteten Schöpfgefässen greift? Dem Gläubigen geht es um mehr:
"O himmlische Mutter, Du Quelle der Liebe,
Du öffnest die Herzen der Liebe zu Gott.
Dein Beistand ist Gnade, der Seele ein Anker.
Wir finden Vergebung, Du führst uns zum Herrn."
(Übersetzt nach Versen von G. Biscossa).
Mit der "Vergebung" hat es eine besondere Bewandtnis.
Vor vielen Jahren erfuhr der Verfasser dieses Beitrags, von der Madonna della Fontana gehe auch eine friedensstiftende Kraft aus.
Der Ort sei geeignet, familiäre Unstimmigkeiten aus dem Weg räumen zu helfen. Der Schreibende erzählte dies einer Bekannten, von der er wusste, dass sie mit ihrer Schwester nicht auf gutem Fusse stand. Der Zufall wollte es, dass er Monate später die beiden Frauen innig umschlungen und versöhnt in der Kapelle antraf. Man mag zu Wunderdingen stehen wie man will - ein Kraftort ist diese Wallfahrtsstätte allemal. Eine wesentliche Bedeutung ist der traumhaft schönen Landschaft zwischen Mimosen, Kamelien und Ewigem Schnee, zwischen südländischem Ambiente und herber Alpenwelt beizumessen. Jakob Flach dachte dabei nicht nur an den "lieblichen, blühenden, dünnen Überzug", sondern an "Fels, Urgestein und Gletscherrelikt, an die geheimnisvolle magische Anziehung des Urgrundes von Berg, Himmel, Wasser und den unsichtbaren Strahlen", welche Dichter und Maler, Musiker, Theater- und Filmleute seit jeher inspirierte.
Die Kapelle zur Madonna della Fontana erreicht man vom Ortszentrum aus zu Fuss auf den Treppenstufen der Scalinata della Ruga zum Monte Verità hinauf, von dort rechts abzweigend auf der abfallenden Strasse in Richtung "Siberia" und dem Teatro San Materno - oder per Auto in umgekehrter Richtung mit Abzweigungen in Richtung Ascona, Brissago und Ronco sopra Ascona.
Bildnachweis:
- Blick vom Lungolago von Ascona zur Collina und zum Monte Verità.
- Kirche und Sanktuarium zur Madonna della Fontana.
- Ort der Andacht und der Stille.
- Das Gnadenbild "Maria mit Kind".
- Wasser aus der wunderkräftigen Quelle.
Aufnahmen: Albert Spycher-Gautschi, Basel.
Empfohlene Literatur:
- Virgilio Gilardoni: I monumenti d'arte e di storia del Canton Ticino, Bd. II, Basel 1979.
- Jakob Flach: Ascona - gestern und heute, Zürich-Stuttgart 1960.
- Walter Keller: Am Kaminfeuer der Tessiner - Sagen und Volksmärchen, Zürich 1940.
Titel: Madonna della Fontana (Ascona)
Autor: Albert Spycher-Gautschi, Bündnerstr. 26, CH-4055 Basel
Copyright: © by Albert Spycher-Gautschi, Basel
gepostet von Albert Spycher-Gautschi am:
Date: Mon, 26 Oct 2009 17:48:45 +0100
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