Ein Gebäck mit vielen Namen:
Biestkuchen, Torta di colostra, Totché
Text und Bilder: Albert Spycher-Gautschi, Basel
In Deutschland und Österreich heissen sie Biest-, im Schweizerdeutschen
Briest-, Brienst- oder Brieschkuchen - genannt nach dem mittelhochdeutschen "biest" als Bezeichnung für die von der Kuh nach dem Kalben produzierte Milch.
Von einem "Bienst-Chalb" sprach man, solange das frisch geworfene Kälbchen die mütterliche "Bienst-Milch" saugte. Der wissenschaftlich-medizinische Begriff "colostrum" für diese immunitätsstärkende und wachstumsfördernde "Kälbermilch" übertrug sich auf die "torta di colostro" in der italienischen und die "torta di culoster" in der rätoromanischen Schweiz (Tessin, Graubünden).
Wie sie nun auch geheissen wurden, backte man früher solche Kuchen, Küchlein oder Torten im ländlich-bäuerlichen Haushalt vor dem Brotbacken und versprach sich vom geronnenen colostrum als wesentliche Zutat dieselben gesundheitlichen Vorteile wie beim lieben Vieh. Aus der Schweiz stammt auch die Überzeugung, dass eine noch junge Kuh reichlich Milch liefern werde, wenn man die beiden ersten mit ihrem colostrum hergestellten "Bienstküchlein" einem Armen schenke. Laut südschweizerischen Rezepten ist die torta di colostro eine süsse Angelegenheit. Man belegt eine ausgebutterte "tortiera" (Kuchenform) mit Paniermehl oder zerbröselten "amaretti" (Konfekt mit Bittermandelaroma) und gibt den aus colostrum, Eiern, Zucker, Salz, Vanille und Zimt bereiteten Guss darüber und backt das Ganze während 30 Minuten bei 180°C.
Im Schweizer Jura und in der französischen Nachbarschaft gilt dieser Kuchen als besonders beliebtes Brauchtumsgebäck und wird dort "toëtché" oder "totché" (sprich: totschee) genannt - eine volkstümlich-mundartliche Abwandlung des französischen Ausdrucks "tarte" (Torte). Eines der Brauchtumszentren ist der nordwestlichste Zipfel der Schweiz, die Ajoie (sprich: Aschua) im Kanton Jura, mit dem Bezirkshauptort Porrentruy (deutsch: Pruntrut). Früher betonte man die Bedeutung des schmucken Städtchens als ehemaligen Sitz des Bistums Basel. Künftig wird die im Bau befindliche TRANSJURANE als Verbindung zwischen dem französischen und dem schweizerischen Autobahnnetz dieser Randregion neue Impulse verleihen.
Bekannt wurde die Gegend auch durch die Freilegung einer grossen Zahl von Saurier-Trittspuren im Jurakalk einer Autobahnbaustelle. Nun aber zur Sache: Appetitlich goldgelb einladende totchés in verschiedenen Grössen, von denen man auch Hälften oder Viertel kaufen kann, sind jahraus jahrein der Stolz jedes Bäcker-Konditormeisters. Auch die Produkte von Grossherstellern sind nicht zu verachten. Wenn Porrentruy Mitte November den Herbstmarkt aufzieht, wird der totché zum "gâteau de la Saint Martin" aufgewertet.
Wo auf städtische Verhältnisse ausgerichtete Rezepte anstelle des schwer erhältlichen colostrums Doppelrahm vorschreiben, entsteht je nach Sprachregion ein "Rahmkuchen", ein "Rahm-Fladen" oder in elsässisch-sundgauischer Mundart eine "Rühm-Wàjà" (Rahmwähe). Althergebrachter Manier am Nächsten kommt die Verwendung von Sauerrahm oder mit Joghurt angereicherter Doppelrahm. Man darf annehmen, dass die Bauersfrauen früher den Teigboden aus Brotteigresten wirkten, die sie aus der Backmulde herausscharrten. Heutzutage verwöhnt ein Hefe-Milchbrotteig den verwöhnten Gaumen.
Hier die Zutaten für einen Biestkuchen oder totché in einem Kuchenblech von 30 cm Durchmesser mit niederem Rand:
Teig: |
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400 g gesiebtes Weissmehl, 1/2 Teelöffel Salz, 15 g frische Hefe,
1 dl lauwarme Milch, 30 g zerlaufene Butter, 1 Teelöffel Speiseöl.
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Guss: |
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250 g Doppel-Sauerrahm oder 250 g Doppelrahm mit 1 Esslöffel Joghurt (natur) vermischt,
1 ganzes Ei, 20 g Wessmehl, Pfeffer und Salz nach Geschmack.
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Dekor: |
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1 Eigelb, 1 Messerspitze Safranpulver.
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Man wirke einen feinen Milchbrotteig, walle ihn aus und lege ihn so ins Kuchenblech, dass der Rand leicht überlappt wird. Mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger modelliert man die Überlappung zu einem möglichst gleichmässigen wulstartigen Rand. Jetzt kann die aus den Guss-Zutaten vermengte und mit Salz und Pfeffer abgeschmeckte Masse auf dem Teigboden verteilt und mit Safranpulver bestäubt werden. Anschliessend wird der Wulstrand mit Eigelb bestrichen. So vorbereitet, steht dem 25-minütigen Backvorgang im auf 220°C. vorgeheizten Ofen nichts mehr im Weg. Die vom Safran bewirkte gelbliche Verfärbung soll an die Zeiten des colostrums erinnern.
Von einem grünen Salat begleitet, ist dieser Kuchen mit seinem feinen Aroma ein bekömmliches Gericht.
Empfohlene Literatur:
- www.kulinarischeserbe.ch (französischsprachig)
- Georges Wenger: Les Saisons de la terre jurassienne, Porrentruy 1997.
- Maryton Guidicelli, Luigi Bosia: Ticino a tavola, Lugano 1976.
- Albert Spycher: Back es im Öfelin oder in der Tortenpfann. 186. Neujahrsblatt GGG, Basel 2007.
Bildlegenden:
- Totchés bei Josy Caillet, Alle (Kanton Jura CH)
- Altstadt von Porrentruy (Kanton Jura CH)
- Liefert das colostrum
Back es im Öfelin oder in der Tortenpfann.
Fladen, Kuchen, Fastenwähen und anderes Gebäck
2007. 159 Seiten mit 82 Abbildungen, davon 54 in Farbe. Broschiert.
Fr. 35.– / EUR 24.50
Schwabe Verlag Basel
ISBN 978-3-7965-2383-0
Titel: Biestkuchen, Torta di colostra, Totché
Autor: Albert Spycher-Gautschi, Bündnerstr. 26, CH-4055 Basel
Copyright: © by Albert Spycher-Gautschi, Basel
gepostet von Albert Spycher-Gautschi am:
Date: Fri, 22 May 2009 07:29:06 +0200
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